Eine
etwas andere Brautvaterrede |
von Dieter Schneeloch |
Ich stelle mich vor für diejenigen, die mich nicht kennen, - ich bin der Brautvater. Vor über 1 Jahr, am 28.Mai 2005, habe ich auf der Goldhochzeit von Thomas’ Eltern den Herold für diese beiden ausgerufen, dass in Bälde die Hochzeit sein werde. Dass das Einholen der damaligen Absicht länger dauerte, hat bestimmte Gründe. Heute nun möchte ich Euch beiden ein paar Worte auf den Weg geben – für Eure gemeinsame Zukunft.
Dass meine Ausführungen etwas philosophisch daher kommen, wissen diejenigen, die mich kennen. Philosophie macht keine Witze, denn Witze wollen überraschende Antworten und somit uns zum Lachen zwingen. Anders die Philosophie: Sie will weniger Antworten geben, sondern vornehmlich richtige Fragen stellen. „Die Suche nach Wahrheit, nicht der Besitz der Wahrheit ist das Wesen der Philosophie“, formulierte einst Karl Jaspers. Die vier großen Fragen Kants – „Was soll ich tun?“, „Was kann ich wissen?“, „Was darf ich hoffen?“, „Was ist der Mensch?“ (Was bin ich?) – müssen beständig neu gestellt werden. Und auch heute und zum Anlass dieser Ehe sollten diese Fragen sie auf ihrem Lebensweg ständig begleiten.
Ich will deshalb im Folgenden drei Begriffe versuchen zu erläutern, an denen ihr Eure zukünftigen Gemeinsamkeit orientieren solltet: Die Freiheit, die Lebenskunst und die Liebe bzw. Freundschaft.
Zunächst etwas zur Freiheit. Die Ehe, die Ihr heute gestiftet habt, beinhaltet ein Versprechen auf „ewig“ (Wort „Ehe“ aus mhd. „ewe“) und weitere Bedingungen von Verantwortung und Pflicht (aus Recht und Gesetz). Können diese Zusagen freiwillig frei sein? Ist das ein Widerspruch in sich?
Wir fühlen uns im Allgemeinen in einer Situation frei. Es ist selbstverständlich, dass wir unser Wollen und Tun meistens als frei erfahren. Unseren Willen, den wir ins Handeln umsetzen, erleben wir als Urheber, der verantwortlich ist kraft der Freiheit. Wir haben den Eindruck, uns in die Zukunft offen zu entwerfen und den Entwurf in die Gegenwart handelnd einzuholen.
Es gibt nun Leute, die meinen, dass diese Freiheitserfahrungen bloß eine Illusion wären. Hirnforscher glauben uns beizubringen, dass alles Wollen und Tun durch neuronalen Vorbedingungen verursacht würden. Feste Aktivitätsmuster im Gehirn sorgen dafür, dass jeder von uns und alle zusammen, dass alles Denken, Fühlen und Handeln „vorprogrammiert“ sind. Das Programm im limbischen System des Gehirns soll das vermeintliche bewusste Handeln einleiten. Gewiss – sagen sie uns –, wir fühlen uns frei. Doch das Gefühl täuscht eine Fiktion: Wir sind nicht wirklich frei. Sagen diese Leute.
Dem Fiktionsverdacht, das Gefühl und die Freiheitserfahrung seien illusionär, kann entgegnet werden, dass „eine verlässliche Entscheidungsinstanz, die zwischen Fiktion und Wirklichkeit entscheiden soll, selbst nicht fiktional sein kann“, begründet Vogeley, Neurologe und Philosoph. Eine Beweisführung und Stellungnahme eines Hirnforschers müssten demnach selbst als fiktiv unterstellt werden. Was soll man davon halten?
Und warum sollte der liebe Gott den Menschen so erschaffen, dass er den freien Willen hat. Die Schöpfung wäre nach 7 Tagen beendet gewesen, weil bereits ab des 8. Tages Evolution und die Zukunft „vorausprogrammiert“ wären und Gott hätte nichts mehr zu tun gehabt und noch zu haben. Die Schöpfung Gottes muss logischerweise fortwährend sein. Er kann nicht wissen, wie der Mensch sich frei entscheidet. Er lässt ihn dadurch an der Änderung der Welt und des Universums teilnehmen. Und die uns von Gott gegebene Freiheit führt nicht nur zum Guten, wie uns die Geschichte gelehrt hat und zurzeit lehrt.
Zurück zu uns und heute: Wenn wir zum Beispiel Anja und Thomas als einzelne Personen analysieren, können wir sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten, die man nicht vermischen darf. Die eine Perspektive ist physiologisch, die andere psychologisch. Die physiologische Perspektive verwendet eine neurobiologische Ausmessung durch Tomografen und ermöglicht eine Interpretation daraufhin. Daneben gibt es eine psychologische Betrachtung, in der eine Person beschrieben wird. Dazu gehören Begriffe wie Wille, Überlegungen und Entscheidungen. Mittels eines Tomografen wird man niemals einen Menschen herausfinden, was er will, überlegt und entscheidet. Für Rorty ist der Perspektivendualismus mit verschiedenen Erklärungsvokabularien notwendig, um eine funktionale Anpassung an die naturgebundene und soziale Umwelt zu ermöglichen.
Der Begriff „Freiheit“ gehört sicherlich zu einer psychologischen Perspektive einer Person. Handelnde Personen wie unsere beiden heute haben sich auf einen langen Weg in Freiheit überlegt und abgewogen sowie gewollt und endlich entschieden.
Wenn die Entscheidungen zum Willen werden, ist aus verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen und dann zu wählen. Eure Wahl habt Ihr letztendlich getroffen. Aber dabei habt Ihr das dreifache Dilemma bewusst erlebt, die eine moderne Wahlfreiheit kennzeichnet:
Die Freiheit verlangt, aus Möglichkeiten wählen zu müssen. Freiheit ist nicht nur Befreiung. Dazu benötigt die Wahlnotwendigkeit ein Können, wie eine Wahl vorzubereiten und zu treffen ist. Unsere beiden haben mehr als 10 Jahre aneinander üben können und haben sich sogar in ihren herrlichen Kindern verkörpert. Aber für beide muss die Wahl eine Festlegung abwägen, die den Raum der eigenen Freiheit begrenzt.
Die vormals gewonnene Freiheit wird somit wieder gebunden und begrenzt. Ihre Realisierung geht einher mit der Begrenzung von Möglichkeiten, ohne die sie nicht sein kann und aus denen sie wählen muss, ohne zu wissen, ob die Wahl die richtige ist.
Aber wenn jemand meint, nicht zu wählen, also jede Festlegung zu scheuen, erkennt er erst recht fatal, dass auch letztlich die Nichtwahl eine Wahl bedeutet. Letztendlich haben beide heute nun „ihre Kurve gekratzt“. Gott sei dank!
Dem Freiheitsdilemma und der vermeintlichen Paradoxie der Freiheit kann man sich genauer vorstellen, dass man sein Leben zwischen Freiheit und Notwendigkeit navigiert, zwischen einem „Zuviel“ an Form, dessen Ordnung erstarrt, und einem „Zuwenig“, das das Leben instabil macht. Konvention oder Widerstand. Was die Lebensführung betrifft, so bewegt sie sich zwischen der Anerkennung äußerer Notwendigkeiten und der Instituierung frei gewählter Notwendigkeit, die die Freiheit zusätzlich begrenzt.
Es geht also um den Konflikt zwischen Heteronomie und Autonomie, also Fremd- und Selbstgesetzlichkeit bzw. Fremdbestimmung und Selbstbestimmung. Beide Heteronomie und Autonomie gehören immer zusammen, obwohl sie sich widersprechen. Es gibt nur die Möglichkeit, sich in diesem „Zwischen“ zu bewegen und Erfahrungen darüber zu sammeln, welche Formen der Freiheit lebbar sind und welche nicht. Es bleibt eine prinzipielle Ungewissheit, mit der das Leben zu führen ist.
Denn die Befreiung von Formen der Heteronomie bringt nicht von selbst schon Formen autonomer Freiheit mit sich. Diese müssen aus einem unabschließbaren Prozess individueller Lebenserfahrung selbst erst gewonnen werden, indem das Ich, jeder von euch, sich vortastet und so einen weiteren Horizont erschließt. Diese Weitung ist nur möglich, wenn es sich offen hält für den Zufall, das Überraschende, Unerwartete, Unverfügbare und für einen Spielraum, wo auch Fehler und Brüche toleriert werden.
Demnach ist „Freiheit“ Befreiung und auch Bedingung. Kinder lernen die Begriffe „Freiheit“ nachzuplappern und empfinden die Freiheit nur als eine „Idee“ der Befreiung. Später merken sie, dass das, was sie einst sagten, nicht stimmte. Denn frei ist man in der Praxis des Lebens immer bedingt, weil wir uns gestalten müssen, unser Leben selbst zu führen.
Wenn man sich und andere befragt, was man mit dem Wort „Freiheit“ meint, dann ist in der Regel die Antwort: „Das ist so etwas wie Selbstbestimmung mit einer Orientierung gegen Zwang durch Determinierung und gegen Zufall durch Wahrscheinlichkeiten. Zwang und Zufall sind demnach von äußeren Ursachen abhängig und daher nicht frei.“
Was aber beinhaltet die Selbstbestimmung positiv? Wenn man zunächst und zumeist Freiheit und Selbstbestimmung gleichsetzt – wie es Michael Pauen sieht -, denke ich über mich selbst, kann das Selbst bestimmt werden. Dieses Nachdenken vollzieht sich jemand in Autonomie, also eigengesetzlich und schreibt sich Eigenschaften zu. Deshalb sollte man sich um die eigene Autonomie bemühen, daran beständig arbeiten. Man kommt dann nicht umhin, selbst und sich selbst zu suchen und im Finden zu verbessern - im Sinne der arete (gr.) = Bestform, Exzellenz.
Derart nachdenkend über sich und darüber, wie man sich in typischen Situationen vollzieht, lerne ich mich nicht nur besser zu verstehen, sondern auch zu verbessern.
In der Sorge um sich selbst orientiert sich nach Wilhelm Schmid die Lebensführung ästhetisch, nämlich als Kunst, sich in der Welt zurechtzufinden. Zurechtfinden bedeutet hier: Sinn und Bedeutung im Leben und in der Welt zu erschließen. Sinn ist dabei nicht etwas Vorhandenes, das man nur finden muss. Sinn ist dagegen als subjektiver Sinn in die Sachverhalte und meinen Lebensvollzug überhaupt hineinzulegen. Erst dann macht es Sinn, den Sinn aus ihnen herauszulesen.
Im Deuten und Interpretieren von Selbst soll also der Sinn meines Lebens erkannt werden, damit ich imstande bin, meinem Leben einen Sinn zu geben. Die Interpretation zeigt Zusammenhänge zwischen den bloß aneinander gereihten Erfahrungen auf und erzeugt auf diese Weise Sinn. Es wird das Sinngefüge von Selbst und Welt hergestellt.
„Im Leben Sinn zu finden“ bedeutet nichts anderes als solche Zusammenhänge ausfindig zu machen und sich darin einzufügen. „Dem Leben Sinn zu geben“ geht darüber hinaus. Es bedeutet, die Zusammenhänge des Lebens als Form und Bedeutung selbst zu gestalten.
Solange die alltäglichen Erlebnisse kohärent mit dem Selbst sind, empfindet man sie im gewöhnlichen Sinne als kompatibel und vertraut mit dem „hermeneutischen Lebensraum“, den ein jeder für sich bewohnt und seinen Lebensraum ästhetisch auslegt. Ähnlich einem Kunstwerk kann die Deutung deshalb niemals eindeutig sein. Die Arbeit der Selbst-Hermeneutik, die dem Leben Sinn gibt, ist vieldeutig und kommt nie an ein Ende.
Diese Zusammenhänge ausfindig zu machen und zu artikulieren, ist nicht einfach, weil sie häufig im Wertsystem der eigene Biografie, verborgener Parameter (Gene, Kultureinfluss, Sozialsystem u.a.) verdeckt sind.
Um die Sinnfrage, die durch Sinnlosigkeitsverdacht und Irrtums- und Enttäuschungsanfälligkeit entsteht, versucht die Lebenskunst sich selbst zu erkennen. Sie vollzieht jeder für sich, sein Leben auszulegen und somit die eigene Sinnfrage selbst zu beantworten. Anders als die ästhetische mehrdeutige Lebenskunst bieten dagegen die Hochreligionen verbindliche Antworten an, um den Sinnlosigkeitsverdacht eindeutig zu vermeiden.
Die hermeneutische Arbeit der Selbstbestimmung erlaubt dem Subjekt jedoch, sich auf das Verstehen zu verstehen und sich und sein Leben eigenständig und selbst bestimmt zu erschließen.
Kant beantwortet die Frage: „Was ist die Aufklärung?“ „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Wenn man die grundsätzliche Frage: „Wie kann ich mein Leben führen?“ stellt und gestaltet, ist die Grundfrage der Ethik Kants „Was soll ich tun?“ in der Lebenskunst zu berücksichtigen.
Wenn ich doch meine Freiheit – zwar eingegrenzt – und meine Lebenskunst erziele, wie kann ich den Partner und sein Wirkungsfeld nicht beschädigen?
Die Achtung in Selbstbestimmung vor sich selbst und gleichberechtigt ist eine unabdingbare Voraussetzung der Sittlichkeit. Die damit verbundene Forderung bildet ein an sich arbeitender Mensch zu einer Persönlichkeit aus, wenn er sein Tun und Lassen ernsthaft zu rechtfertigen sucht. Die Persönlichkeit gewinnt ein Selbstbewusstsein, in den sich das Bewusstsein der eigenen Würde und im Absehen von sich der Menschenwürde des und aller anderen manifestiert.
Das Wirkungsfeld im Mitsein des anderen bedeutet zugleich eine Grenze im Ermöglichungsfeld des eigenen autonomen überlegten Handelns. Die durch Fremdbestimmung aus einer Machtposition darf nicht ethisch eingesetzt werden. Im Gegenteil ist eine kooperative Beziehung zu Synergieeffekten zu ermöglichen. Diese Zusammenarbeit muss allerdings dem Prinzip der Freundschaft entsprechen.
„Freundschaft ist die dauerhafte, wechselseitige Zuneigung der Freunde, die nicht um eine Last oder eines Nutzen, sondern um des jeweils anderen selbst willen geschieht. Freundschaft ist Ausdruck des freien Wohlgefallens an dem anderen. In der Freundschaft ist man selbst bereit, mit dem anderen ohne Eigennutz umzugehen, sich in den anderen zu versetzen und mit ihm zu fühlen.“
Friedrich Nietzsche hat das in seiner nihilistischen Weise getroffen: „Nicht der Mangel an Liebe, sondern der Mangel an Freundschaft macht die unglücklichen Ehen.“
Ich wünsche Euch, jeder für sich und in Eurer Partnerschaft und zusammen mit den Kindern und mit uns allen Freunden – Glück. Und versucht, ab und zu den existenziellen Imperativ der Lebenskunst nach Wilhelm Schmid zu erreichen: „Gestaltet Euer Leben so, dass es bejahungswert ist“.
Liebe Anja, Mutter und ich haben für Dich im Mai 2005 auf der griechischen Insel Santorini die Ohrenstecker mit der Spirale gefunden. Die Stecker können auf diesen heutigen Anlass bezogen werden. Die Spiralen symbolisierten vor 4000 Jahren eine Lebenskette ohne Anfang und Ende, also die Ewigkeit und Unendlichkeit. Das trifft m.E. recht schön das Sinnbild von Freiheit, Lebenskunst und Freundschaft, die Euch für Eure Ehe begleiten mögen.
Eure Mama und Papa